Bauen 4.0 - Fünf Herausforderungen für eine wirklich digitale Bauindustrie

Die Bauindustrie ist im Prinzip krisensicher - zu bauen gibt es genug. Aber die digitale Transformation und neue technologische Entwicklungen von IoT bis Blockchain fordern die Branche heraus. Bauen 4.0 bzw. “BIM” und “PIM” sind Begriffe, die in der deutschen Baubranche bei manchen für Stirnrunzeln sorgen: Die Implementierung verzögert sich, die politischen Regelungen sind unklar und die digitale Vernetzung ist in diesem fragmentierten Markt sehr komplex: große Baustoffkonzernen, Architekturbüros und Handwerker digital auf Augenhöhe zu bringen und in einheitlichen Systemen zu vernetzen, ist eine Herkulesaufgabe.

Viele Bauunternehmen haben das Potenzial neuer Technologien aber schon erkannt und planen jetzt die Umsetzung der digitalen Transformation. Infolgedessen nimmt der Einsatz von Technologien sicherlich zu. Im Jahr 2019 erreichte der IoT-Anteil im globalen Baumarkt 7,8 Milliarden Dollar. Voraussichtlich wird er bis 2024 auf 16,8 Milliarden Dollar anwachsen und mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 16,5% wachsen. 

Aus unserer Sicht gibt es fünf wesentliche Herausforderungen, die die Bauindustrie meistern muss - und bei der digitale Technologien effektiv helfen können.

1. Sicherheit

2018 ereigneten sich in Deutschland 397 tödliche Unfälle am Arbeitsplatz, 22,6 Prozent davon in der Baubranche. Dies ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass die Bauarbeiten schwindelerregende Höhen, das Bedienen schwerer Maschinen und das Laufen durch chaotische Baustellen mit sich bringen. 

Deswegen sollten sich Bauunternehmen auf die Risikominderung konzentrieren und Protokolle für die Sicherheit ihrer Mitarbeiter erstellen. Unternehmen, die ihre Mitarbeiter nicht ausreichend schützen, können mit finanziellen und strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Der richtige Einsatz von Technologien in der Bauindustrie kann die Sicherheit erhöhen. Dies bestätigt eine Studie von USG Corporation: 60% der befragten US-amerikanischen Bauunternehmer glauben, dass der Einsatz von Wearables die Sicherheit erhöht. 22% der Befragten denken, dass automatisierte Ausrüstung und Robotik zu mehr Sicherheit beitragen, während 18% für Drohnen stimmen.

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Vor-Ort-Bildgebung

Geräte wie Drohnen und CCTV-Kameras können Millionen von Bildern auf der Baustelle erfassen. Diese Daten können mit KI analysiert werden, um Risiken wie Abstürze zu identifizieren und Bauarbeiter vor der Gefahr zu warnen. Darüber hinaus kann man anhand dieser Bilder unsicheres Verhalten von Arbeitnehmern erkennen und Personen identifizieren, die auf bewährte Praktiken und Vorschriften zur Sicherheit am Arbeitsplatz geschult werden sollen.

Sensoren auf der Baustelle

Mit IoT-Geräten können Benutzer in Echtzeit Baustellen und deren Risikozonen kartografieren. Solche Systeme werden benutzt, um die Arbeiter zur Vorsicht bei der Annäherung an gefährliche Bereiche zu warnen. Darüber hinaus sind IoT-fähige Warnsysteme zur Evakuierung wirksamer als herkömmliche Alarmanlagen, die wegen des Lärms auf der Baustelle leicht zu überhören sind. Laut Triax Technologies könnten Arbeiter dank des IoT-basierten Evakuierungssystem des Unternehmens Notfall-Standorte um 70% schneller verlassen.

Wearables

Laut dem Connected-Worker-Konzept von Accenture sollen Bauarbeiter mit IoT-Geräten ausgestattet werden, die ihren Zustand und die Umgebung überwachen. Der IoT-Markt bietet viele Beispiele für Geräte, die auf einer Baustelle nützlich sein können: Zippkool entwickelte einen Kühlmechanismus zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur bei starker Hitze. SolePower stellt selbstaufladende Schuhe und Sohlen her, die schlechte Sicherheitsbedingungen erkennen und melden. 

Ein weiteres Beispiel sind tragbare Sensoren zur Überwachung der Arbeiter, die schwere Maschinen bedienen. Wenn die Sensoren Stress- oder Müdigkeitsanzeichen erkennen, benachrichtigen sie automatisch den Vorgesetzten, damit er dem betroffenen Arbeiter eine Pause gibt, um ermüdungsbedingte Unfälle zu vermeiden. Das letzte Beispiel ist eine Brille, mit der Arbeiter freihändig auf Handbücher und Anweisungen zugreifen können, so dass sie die benötigten Informationen erhalten, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

2. Ausrüstungsüberwachung

Die Überwachung des Standorts und des Zustands der Ausrüstung ist im Bauprozess von wesentlicher Bedeutung. Trotzdem verlassen sich viele Unternehmen dabei immer noch auf Tabellenkalkulationen oder sogar auf Stift und Papier. Ein fehleranfälliger Ansatz, der der Komplexität heutiger Baustellen nicht mehr gerecht wird. Es kommt allzu oft vor, dass Ingenieure, die an einem kritischen Projekt arbeiten, an einem im Ausrüstungsprotokoll erwähnten Ort kommen und feststellen müssen, dass die Maschinen fehlen. Dies führt in der Regel zu Verwirrung, Schuldzuweisungen und Terminüberschreitungen.     

Die Digitalisierung der Bauindustrie ermöglicht automatisierte Überwachung der Ausrüstung durch Tagging, Datenanalysen und vorbeugende Wartung.

Predictive Maintenance

Sensoren in Baggern, Planierraupen, Kränen und anderen Baumaschinen verfolgen verschiedene Parameter wie Bremsentemperatur, Kraftstoffverbrauch oder Feuchtigkeit und melden jede Beschädigung, bevor sie eskaliert. Für die Produktivität ist es entscheidend, Leistungsprobleme zu erkennen, bevor die Ausrüstung komplett ausfällt. Dies ermöglicht es Baufirmen, nur das defekte Teil zu reparieren, ohne das Projekt auf Eis zu legen.  

Vorbeugende Wartung reduziert die Reparaturkosten um 5-10% und den Aufwand für die Wartungsplanung um 20-50%.

Verbesserte Maschinenauslastung

Die von Sensoren gesammelten Telematikdaten werden analysiert, um Erkenntnisse über die Nutzung der Geräte zu gewinnen, beispielsweise wenn die Maschinen abgekühlt werden müssen. Diese Erkenntnisse sind besonders nützlich bei unternehmerischen Entscheidungen, wenn sie mit anderen Daten wie Maschinenabschreibung, Garantie und verfügbaren Ersatzteilen kombiniert werden. Aggregierte Telematik- und Logistikdaten helfen auch dabei Fahrdienste zu optimieren.

Verfolgung von Geräte mit Sensoren

Durch die Anbringung von RFID (Radio Frequency Identification)-Tags an kleinere Geräte werden diese innerhalb der Baustelle leicht gefunden. Die automatisierte Verfolgung von Assets ist in der Bauindustrie mittlerweile Standard. Laut Commercial Construction Index war das Geräte-Tagging nach Drohnen eine der am häufigsten verwendeten Technologien im Baugewerbe. Es wird erwartet, dass sich ihr Einsatz bis 2022 fast verdoppelt.

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3. Produktivität

Laut einer internationalen Studie von Deloitte hat sich die Produktivität in den letzten 20 Jahren branchenübergreifend um 25% verbessert. Allein die Fertigungsindustrie konnte ihre Leistung um 60% steigern. Überraschenderweise ist dieser Wert im Bausektor nur um 5% gestiegen.

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Das geringe Produktivitätswachstum ist auf die Fehler zurückzuführen, mit denen Bauunternehmen in diesem Bereich konfrontiert sind. Beispielsweise können Fehler im Gebäudeentwurf den Bauprozess erheblich verzögern. Außerdem ist es schwierig, den Zeitrahmen richtig abzuschätzen, etwa bei der Aushärtung von Beton. Das kann das gesamte Projekt verzögern. Bauen 4.0-Technologie soll helfen, Bauprozesse zu optimieren. Beispielsweise mit BIM.

Building Information Modeling (BIM)

BIM ist ein technologiegestütztes Verfahren zur Erzeugung von 3D-Modellen für Gebäudepläne einschließlich zugrunde liegender Strukturen und Systeme. Diese virtuellen Modelle sind dynamisch - wenn ein Teil geändert wird, werden alle anderen (einschließlich Elektrizität, Heizung, Architektur, Sanitäranlagen usw.) automatisch an die Änderung angepasst. BIM reduziert Baufehler, da etwaige Unstimmigkeiten bereits vor Beginn des Bauprozesses erkannt werden können. 

Sogar nachdem das Gebäude bewohnt ist, kann der Eigentümer den BIM-Plan nutzen, um Informationen zum Gebäudemanagement und zur vorbeugenden Instandhaltung zu erhalten. 

Risiko-Management-Software

Hierbei handelt es sich um spezielle Programme für den Einsatz der oben erwähnten BIM-Software zusammen mit Machine Learning und anderen Analyseverfahren. Entsprechende Software kann verschiedene Arten von Risiken im Zusammenhang mit dem Bauprojekt vorhersagen. Diese Erkenntnisse helfen Managern, Risiken zu mindern und die Leistung zu steigern. 

Ein Beispiel für eine solche Software ist BIM 360 Construction IQ. Das Programm führt täglich eine Neubewertung der Risiken durch, indem es Hunderte von Projektthemen durchläuft und diejenigen als "hohes Risiko" kennzeichnet, die potenzielle Abstürze und Wassergefahren beinhalten und bei denen eine Sicherheitsinspektion ansteht. Autodesk setzte in einem Pilotprojekt Risiko-Management-Software in Zusammenarbeit mit Swinerton Builders ein, um Risiken im Zusammenhang mit Subunternehmern und Sicherheitsbedingungen auf der Baustelle zu kontrollieren. Swinerton war mit der Applikation zufrieden. Sie helfe, Sicherheitsprobleme zu erkennen und den richtigen Subunternehmer zu beauftragen.

Abschätzung der Betonaushärtung

Wie oben erwähnt, ist es schwierig abzuschätzen, wie lange es dauern wird, bis Beton trocknet und die gewünschten Eigenschaften entwickelt. Glücklicherweise können dabei neue Technologien helfen. Beim Gießen etwa können Temperatursensoren in Beton eingebettet werden, um Informationen über die Aushärtung in Echtzeit zu übermitteln. Dadurch können Bauleiter ihre Aktivitäten zuverlässig planen und den Personaleinsatz optimieren.

4. Nachhaltigkeit

Heutzutage ist Nachhaltigkeit ein häufig diskutiertes Thema, und die Kunden sind sich ihrer Auswirkungen auf den Planeten bewusst. Immer öfter suchen sie nach Lieferanten, die nachweisen können, dass sie nachhaltige Materialien verwenden. Dies verschafft Unternehmen, die “grünes Bauen” praktizieren, einen Wettbewerbsvorteil. Die Präferenzen der Verbraucher sind jedoch nicht der einzige Grund, warum die Industrie sich um umweltfreundlichere Praktiken bemühen muss. Die Bauindustrie war 2018 für 39% der CO2-Emissionen verantwortlich. Das sind 2% mehr als 2017, während Bauabfälle bis 2025 voraussichtlich 2,2 Milliarden Tonnen erreichen werden. Die Einführung digitaler Initiativen in die Branche soll dazu beitragen, den gesamten CO2-Fußabdruck zu reduzieren.

Vorgefertigte Komponenten

Die Verwendung von vorgefertigten Teilen ist kostengünstiger und führt zu weniger Bauschutt. Dieser Ansatz funktioniert jedoch gerade bei großen Gebäuden nicht immer, da es nicht einfach ist, die Lieferung von Komponenten zu koordinieren. Das IoT löst dieses Problem durch den Einsatz von RFID-Sensoren, die Komponenten über die gesamte Lieferkette verfolgen. Diese Technologie wurde beispielsweise beim Bau des Leadenhall-Gebäudes in London eingesetzt.

“Grünes Bauen”

Beim “Grünen Bauen” werden Technologien eingesetzt, die den CO2-Fußabdruck minimieren. Dazu gehört nicht nur die Verwendung nachhaltiger Materialien, sondern auch die Minimierung der Kohlenstoffemissionen des Gebäudes nach der Bewohnung. Eingebettete IoT-Lösungen helfen dabei, nicht genutzte Systeme automatisch abzuschalten, so dass das Gebäude mit einem optimalen Energieniveau betrieben werden kann. 

Ein berühmtes Beispiel dafür ist “The Edge” in Amsterdam. Das Gebäude ist mit 28.000 Sensoren ausgestattet, die verschiedene Parameter wie Temperatur, Licht, Bewegung und Feuchtigkeit erfassen. Sogar die Parkplätze enthalten Sensoren, die dafür sorgen, dass die LED-Leuchten beim Annähern eines Autos aufleuchten und beim Abfahren dimmen.

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5. Mangel an Kompetenzen und Arbeitskräften

Früher war die Baubranche von der Babyboomer-Generation dominiert. Heute gehen die Boomer in den Ruhestand, und die Millennials zusammen mit der Generation X repräsentieren den größten Teil der Beschäftigten. Die Branche kämpft mit Fachkräftemangel, da die meisten Vertreter der jüngeren Generation nicht mehr bereit sind, prekäre Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung hinzunehmen. Arbeiten in der Bauindustrie ist derzeit einfach nicht attraktiv genug, gerade auch, weil die Ausgaben oft langweilig sind. Der Personalmangel wiederum verlängert Projektlaufzeiten und reduziert die Kundenzufriedenheit. Darüber hinaus sind die Unternehmen durch die Pensionierung erfahrener Mitarbeiter gezwungen, weniger qualifizierte Mitarbeiter einzustellen, was zu mehr Unfällen und Sicherheitsproblemen führen kann. 

Technologie kann helfen, anstrengende, repetitive Tätigkeiten zu übernehmen - und damit attraktiver für jüngere Generationen zu werden.

Autonome Fahrzeuge

Selbstfahrende Lastwagen und Bagger können den Menschen bei einigen Bauaufgaben ersetzen, insbesondere bei solchen, die mit einem hohen Risiko verbunden sind. Diese Fahrzeuge nutzen GPS und 3D-Baustellenmodelle, um die Navigation und das Erledigen von Aufgaben ermöglichen. Darüber hinaus können unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs) wie Drohnen bei der Überwachung großer Baustellen helfen. Sie nehmen Bilder auf, die später zur Verfolgung des Baufortschritts verwendet werden können. 

In der Umfrage von 2020 stellte AGC fest, dass 32% der befragten Unternehmen autonome Geräte wie Roboter und Drohnen einsetzen, um den Mangel an menschlichen Arbeitskräften zu überwinden.

Erhöhte Attraktivität für potentielle Arbeitskräfte

Bauarbeiten werden von jüngeren Generationen oft als gefährlich und langweilig empfunden. Die Einsetzung digitaler Technologien wie KI, VR und IoT wird die Branche für Jugendliche attraktiver machen, da sie dann zu Ihren Aufgaben gehören werden.

Möchten Sie in die Digitalisierung investieren?

Laut McKinsey gehört das Baugewerbe zu den am wenigsten digitalisierten Branchen. Auch wenn heutzutage viele Unternehmen bereit sind, die Vorteile der digitalen Technologien zu nutzen, kann die Einführung von Technologien trotz aller Vorteile eine komplexe und problematische Aufgabe sein.

Hier sind ein paar Tipps, damit dieser Prozess reibungslos verläuft:

  • Projekte realistisch und entsprechend der finanziellen Möglichkeiten planen. Es ist zwar verlockend, sich für die modernste Technologien zu entscheiden. Wichtig ist dabei aber, dass Sie Ihre wirtschaftliche Situation analysieren und Ihre Use Cases entsprechend priorisieren - durch das Einstufen als langfristige strategische Initiativen oder als kurzfristige Aktivitäten.
  • Mit innovativen Startups im Bausektor kooperieren. Es gibt mehrere Möglichkeiten: entweder in ein Tech-Startup zu investieren, mit ihm bei der gemeinsamen Entwicklung einer Lösung zusammenzuarbeiten oder an einem Pilotprojekt teilzunehmen.
  • In Kompetenzen investieren. Bieten Sie Ausbildungsprogramme für Ihre Mitarbeiter an und unterstützen Sie sie bei der Umschulung. Suchen Sie nach Kandidaten mit technischem Hintergrund und scheuen Sie sich nicht, auch Personen mit Hintergrund außerhalb des Bausektors einzustellen. Kompetenzen in der digitalen Transformation sind branchenübergreifend übertragbar.

Die digitale Transformation in der Bauindustrie eröffnet viele Möglichkeiten - Unternehmen werden kompetitiver, attraktiver für Arbeitnehmer und grüner. Wir werden einen Punkt erreichen, an dem die Digitalisierung nicht mehr eine Option, sondern ein Muss sein wird. Unternehmen, die nicht digitalisieren, werden einen hohen Preis zahlen müssen.